Allgemein Kolumne

Demenz – Ein Leben in der Vergangenheit

Ich sitze an Opas Bett, halte seine Hand. Er erzählt mir, dass er heute in der Rhön gewandert ist. Obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt, frage ich ihn, ob es dort schön war. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Mein Opa liebt die Natur. Es gab kaum ein Tag, an dem er und meine Oma nicht spazieren waren. Der tägliche Spaziergang im Wald gehört für ihn genauso dazu, wie das Lesen der Zeitung am Morgen. Ein Außenstehender würde gar nicht in Frage stellen, dass er heute in der Rhön war – Mein Opa hat Demenz, so wie einige andere Menschen auch.

Die Erinnerung ist das Einzige, was bleibt

Natürlich könnte ich ihn berichtigen. Ihm sagen, dass er seit Monaten gar nicht mehr dazu im Stande ist, in der Rhön zu wandern. Diese schöne Erinnerung, das bisschen Leben, was ihm noch bleibt, mit einem Satz zerstören. Wie ein großer Bruder, der die Seifenblasen, über die sich seine kleine Schwester gerade so sehr freut, einfach so zerplatzen lässt. Aber möchte ich das? Manchmal spiele ich tatsächlich mit diesem Gedanken.

So gerne würde ich mit ihm über das Gegenwertige sprechen. Ihm erzählen wie mein Tag war. Mich mit ihm darüber unterhalten, was ich erlebt habe. Ihn nach seiner Meinung fragen und ihn um ein Rat für mich bitten. Doch leider ist das alles aufgrund der Demenz nicht mehr möglich. Zwar hört er mir immer noch aufmerksam zu, wenn ich ihm erzähle, was ich erlebt habe und man merkt, dass er versucht, mir zu folgen. Man sieht ihm förmlich an, dass er sich bemüht meine Worte wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Schließlich lächelt er verlegen, weil er schon gar nicht mehr wirklich weiß, was ich zuvor erzählt habe. Ein Lächeln, welches ich nie vergessen werde. So verschmitzt und ehrlich.

Die Vergangenheit erzählt die
schönsten Geschichten

Mein Opa lebt in der Vergangenheit. Die Gegenwart besteht für ihn aus längst vergangenen Tagen. Erlebnisse, die bereits Jahre zurückliegen, sind für ihn so präsent als wären sie erst gestern passiert. Selbst an Geschehnisse aus seiner Kindheit, die über 65 Jahre zurückliegt, erinnert er sich. Er erzählt sie so detailliert als würde er aus einem Buch vorlesen. Manchmal sind es sogar Geschichten, die sein Bruder schon fast vergessen hat. Würde ich Opa sagen, dass er heute gar nicht in der Rhön war, würde er an der Vergangenheit zweifeln. Er würde die ganzen schönen Erinnerungen in Frage stellen, die ihm geblieben sind. Und mir würden die Geschichten aus einer Zeit entgehen, die ich mir heute kaum vorstellen kann. Vielleicht hätte ich dann nie erfahren, dass ich einen Großonkel habe, der im Krieg gefallen ist. Ich wüsste nicht, dass Opa sich vor Jahren mit einem sehr bekannten deutschen Sänger das Zugabteil geteilt hat. Oder, dass er, obwohl er nicht schwimmen kann, zu seiner Bundeswehrzeit bei den Fallschirmspringern war. Dass er zwar den Mut hatte, mit einem Fallschirm zu springen, aber sich nicht getraut hat, zu schwimmen.

Sobald ich bei meinem Opa bin, bleibt die Zeit einfach stehen. Die Gegenwart, das Hier und Jetzt, wird zu Nebensache. An keinem anderen Ort ist das Allgegenwärtige so dermaßen unwichtig. Ich schaue nicht auf die Uhr oder irgendein Datum, sondern hole ihn dort ab, wo er gerade steht. Und wenn er in diesem Moment denkt, dass ich immer noch seine kleine Enkelin bin, die er früher auf der lila mit pinken Schaukel im Garten angeschubst hat, dann bin ich das für ihn. Ich belehre ihn nicht. Sage ihm nicht, dass ich schon längst erwachsen bin. Das ich kein Schulkind mehr bin, sondern bereits im Berufsleben stehe, spielt in diesem Augenblick keine Rolle – Für ihn nicht und für mich auch nicht. Ich erinnere mich dadurch gerne an meine Kindheit. Die Farben der Schaukel mit dem lilafarben und pinken Gerüst, hätte ich sogar beinah vergessen, wenn er sie nicht angesprochen hätte.

Die Zeit ist das Wertvollste

Ich nehme mir die Zeit, um Opa einfach zuzuhören. Zeit ist das, was wichtig ist. Sie ist das Einzige, was wir uns nicht mehr zurückholen können, wenn wir es einmal verloren haben. Die Zeit ist das schönste Geschenk und sie wird um so wertvoller, wenn wir sie mit anderen teilen. Das einzige Problem ist, dass wir denken, dass wir noch so viel Zeit vor uns haben. Anstatt immer auf die Uhr zu schauen, sollten wir versuchen, die Zeit mit möglichst vielen schönen Momenten zu füllen. Erinnerungen sind das, was die Zeit so unglaublich wertvoll macht. Und Erinnerungen sind das, was uns keiner nehmen kann – Sie sind das kostbarste Geschenk, welches wir mit anderen teilen können.

18 Kommentare Neues Kommentar hinzufügen

  1. Jasmin sagt:

    Ich finde es toll das du über dieses Thema berichtest. Ich bin Altenpflegerin und arbeite täglich mit Patienten mit Demenz und sich Zeit nehmen und den Patienten zuhören ist total wichtig.

    LG Jasmin

  2. Hanna sagt:

    Der Text wirklich schön geschrieben und so mitreißend und persönlich. In meiner Familie gab es bisher noch keinen Demenzfall und ich stelle mir das sehr schwer vor und finde es toll, dass du so gut damit umgehen kannst und sogar das Positive darin sehen kannst.

  3. Dahi Tamara sagt:

    Zeit ist das Kostbarste, das man einem anderen Menschen schenken kann. Nicht zuletzt, weil die Zeit von einem jeden von uns nicht endlos ist.

    Ein sehr bewegender Beitrag.
    Danke dafür.

    Liebe Grüße
    Dahi Tamara

  4. Marie sagt:

    Meine Oma hatte auch Demenz, aber da sie nicht in Berlin wohnte, habe ich davon nicht viel mitbekommen. Wirklich jede Minute ist kostbar und sollte so erlebt werden, dass man sich an sie erinnert. Sehr schöner Bericht und du hast absolut recht: Zeit das kostbarste Geschenk, welches wir mit anderen teilen können.
    Alles Liebe Marie

  5. Sarah sagt:

    Der Text ist wirklich klasse. Nach „Honig im Kopf“ finde ich Demenz so so traurig und hoffe einfach so sehr, dass ich nie daran erkranken werde.
    Zeit ist wirklich kostbar!

    Liebste Grüße,
    Sarah

  6. Was für ein wunderschöner Beitrag! Er hat mich sehr ergriffen und ich habe ihn gerne gelesen. Danke, dass du so wichtige aber auch persönliche Themen mit uns teilst und uns zum Nachdenken anregst.

    Liebe Grüße,
    Diana

  7. Anna sagt:

    Das ist ein sehr bewegender Text meine liebe. Meine Uroma hatte auch Demenz, von daher kann ich das gut nachvollziehen. Ich finde es wirklich traurig, wie so eine Krankheit einen geliebten Menschen doch so verändern kann & hoffe immer, dass in diesem Bereich endlich mal mehr geforscht wird. Dennoch freut es mich, dass du dir soviel Zeit für deinen Opa nimmst und ihr so schöne Stunden zusammen habt. xxx

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